Seit den Terroranschlägen der Hamas hat sich die Atmosphäre für die jüdische Gemeinschaft in Köln spürbar verändert. Andrei Kovacs, Unternehmer und Generalsekretär des Vereins „Jüdisches Leben in Europa“, berichtet von wachsender Angst, subtiler Ausgrenzung und einem neuen, bedrohlichen Antisemitismus, der den Alltag vieler der knapp 4.000 jüdischen Bürger in der Stadt prägt.
Wichtige Erkenntnisse
- Die jüdische Gemeinde in Köln erlebt seit den Ereignissen im Nahen Osten eine Zunahme von Unsicherheit und Angst.
- Andrei Kovacs beschreibt einen „schleichenden Antisemitismus“, der sich in sozialer Ausgrenzung und im Kulturbetrieb zeigt.
- Juden werden oft pauschal für die Politik der israelischen Regierung verantwortlich gemacht, unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft.
- Kovacs betont, dass Antisemitismus nicht nur ein importiertes Problem ist, sondern tief in der deutschen Gesellschaft verankert bleibt.
Ein verändertes Klima in der Stadt
Für viele Menschen in Köln ist der Gedanke, Deutschland dauerhaft zu verlassen, unvorstellbar. Doch innerhalb der jüdischen Gemeinschaft ist diese Überlegung präsenter geworden. Die Ereignisse im Nahen Osten haben die gesellschaftliche Stimmung auch in Deutschland verschärft und ein Gefühl der Bedrohung erzeugt, das tief in den Alltag eingreift.
„Das Klima hat sich verändert“, stellt Andrei Kovacs fest. Als Unternehmer, Musiker und Vertreter des jüdischen Lebens in Europa beobachtet er die Entwicklungen mit großer Sorge. Die Kritik an der israelischen Regierung werde zunehmend als Vorwand genutzt, um alte antisemitische Stereotype wieder aufleben zu lassen.
Hintergrund: Jüdisches Leben in Köln
Die jüdische Gemeinde in Köln zählt knapp 4.000 Mitglieder. Die Synagoge in der Roonstraße steht, wie viele jüdische Einrichtungen in Deutschland, unter ständigem Polizeischutz. Dies ist ein sichtbares Zeichen für die latente Bedrohungslage, die sich nach dem 7. Oktober 2023 nochmals verstärkt hat.
Die aktuelle Lage führt dazu, dass Juden weltweit für die Handlungen der Regierung Netanjahus verantwortlich gemacht werden. Dabei wird oft übersehen, dass viele von ihnen keine israelischen Staatsbürger sind oder die Politik der aktuellen Regierung nicht unterstützen. Diese pauschale Gleichsetzung befeuert eine aufgeheizte Stimmung.
Andrei Kovacs über subtile Formen des Hasses
Andrei Kovacs macht deutlich, dass es nicht immer um offenen Judenhass geht. Vielmehr beobachtet er einen subtilen und schleichenden Antisemitismus, der sich in alltäglichen Situationen manifestiert. Diese Veränderungen sind oft schwer greifbar, aber in ihrer Summe alarmierend.
„Plötzlich werden jüdische Kinder nicht mehr eingeladen, Freundschaften erodieren, Kontakte brechen ab. Das kann im Einzelfall ganz banale Gründe haben, in der Summe aber ist es mehr als merkwürdig.“
Diese Form der Ausgrenzung schafft ein Klima des Misstrauens und der Isolation. Kovacs betont, dass solche Erfahrungen das Gefühl der Zugehörigkeit untergraben und die Sorge um die Zukunft verstärken. Es ist ein schleichender Prozess, der das soziale Gefüge belastet.
Kein rein importiertes Problem
Kovacs widerspricht der verbreiteten Annahme, dass Antisemitismus in Deutschland hauptsächlich von Migranten aus islamischen Ländern ausgeht. Er erinnert an den rechtsextremen Attentäter von Halle, der vor sechs Jahren versuchte, einen Massenmord in einer Synagoge zu begehen: „Auch der Attentäter von Halle war kein Migrant.“
Die Angst zeigt sich auch darin, dass sich viele Juden nicht mehr trauen, in der Öffentlichkeit eine Kippa zu tragen. Das öffentliche Zeigen jüdischer Identität wird zunehmend als Risiko empfunden.
Kritik an Kultur und Gesellschaft
Eine weitere besorgniserregende Entwicklung sieht Kovacs im Kulturbetrieb. Er hat den Eindruck, dass jüdische Künstler und Projekte zunehmend ausgegrenzt werden.
„Im Kulturbetrieb, bei Filmen, Konzerten und Projekten, habe ich den Eindruck, dass neuerdings regelrecht gecancelt wird“, so Kovacs. Diese Beobachtung deutet auf eine neue Form des Boykotts hin, die sich gegen jüdische Kulturschaffende richtet und deren Teilnahme am öffentlichen Diskurs einschränkt.
Vor vier Jahren war Kovacs maßgeblich an der Organisation des Festjahres „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ beteiligt. Das Ziel war es, den positiven und prägenden Beitrag der jüdischen Kultur für die deutsche Gesellschaft sichtbar zu machen. Er lehnt eine reine Opferperspektive ab und möchte, dass seine Kinder ohne ein solches Gefühl aufwachsen. Angesichts der aktuellen Entwicklungen sieht er die Zukunft jüdischen Lebens in Deutschland jedoch als gefährdet an.
Politische Reaktionen und die Rolle der Zivilgesellschaft
Die Sorgen der jüdischen Gemeinschaft werden auch von Teilen der Politik geteilt. Die CDU-Bildungsministerin Karin Prien, die selbst jüdische Wurzeln hat, äußerte sich alarmiert. Sie sagte in einem Podcast, der Staat sei nicht mehr in der Lage, Juden wirksam zu schützen. Für den Fall eines AfD-Bundeskanzlers könne sie sich vorstellen, das Land zu verlassen.
Auch die Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschland, Hanna Veiler, berichtete von bedrückenden Erlebnissen wie Morddrohungen auf ihrem Handy. Diese Beispiele zeigen, dass die Bedrohungslage ernst genommen wird.
Lokale Maßnahmen in Köln
In Köln gibt es seit 2021 eine Online-Meldestelle für antisemitische Vorfälle, die eine niedrigschwellige Möglichkeit zur Dokumentation von Anfeindungen bietet. Laut Kovacs ist die Stadt Köln grundsätzlich aufgeschlossen und tolerant, und die Politik in Bund, Land und Kommune sei unterstützend. Dennoch sieht er ein gesamtgesellschaftliches Problem.
Kovacs ist überzeugt, dass die zunehmende Polarisierung in der Gesellschaft demokratiefeindliche Tendenzen und damit auch den Antisemitismus fördert. Er sieht die Verantwortung nicht allein bei der Politik.
„Dagegen Flagge zu zeigen, ist eine Aufgabe für die gesamte Zivilgesellschaft“, appelliert er. Es sei eine gemeinsame Aufgabe aller Bürger, sich aktiv gegen Hass und Ausgrenzung zu stellen, um die Grundlagen einer offenen und demokratischen Gesellschaft zu verteidigen.




