Zwei Jahre nach dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober wächst in den jüdischen Gemeinden in Nordrhein-Westfalen die Sorge vor zunehmendem Antisemitismus. Gemeindemitglieder berichten von einer Atmosphäre der Angst und Unsicherheit, die viele über eine Zukunft in Deutschland nachdenken lässt. Führende Vertreter fordern mehr sichtbare Unterstützung von der Mehrheitsgesellschaft.
Wichtige Erkenntnisse
- Zwei Jahre nach dem 7. Oktober hat sich die Sicherheitslage für Jüdinnen und Juden in Deutschland spürbar verschlechtert.
- In Gemeinden wie Düsseldorf und Essen wird offen über die Möglichkeit einer Auswanderung diskutiert.
- Alltägliche Anfeindungen, von feindseligen Blicken bis zu Schmierereien, nehmen zu und erzeugen ein Klima der Angst.
- Gemeindevertreter vermissen eine klare und aktive Solidarität aus der Mitte der Gesellschaft.
Ein Leben in ständiger Anspannung in Düsseldorf
Für die Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf, der drittgrößten in Deutschland, ist Normalität in weite Ferne gerückt. Oded Horowitz, der Vorsitzende der Gemeinde, beschreibt eine tiefgreifende Verunsicherung, die den Alltag prägt. „Der 7. Oktober hat alle Gemeinden in der Diaspora traumatisiert“, erklärt er. Die Situation sei für Juden in Deutschland in mancher Hinsicht sogar belastender als für die Menschen in Israel.
Während die Menschen in Israel auf eine starke Armee vertrauen könnten, die ihre Sicherheit gewährleistet, fühlen sich Jüdinnen und Juden in Deutschland zunehmend allein gelassen. „Es gibt einen sehr profunden Hass“, sagt Horowitz. Diese Aussage spiegelt die täglichen Erfahrungen seiner rund 7.400 Gemeindemitglieder wider.
Hintergrund: Der Terrorangriff vom 7. Oktober
Am 7. Oktober 2023 verübte die Terrororganisation Hamas einen großangelegten Angriff auf Israel. Dabei wurden über 1.200 Menschen ermordet und mehr als 240 als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt. Dieses Ereignis löste weltweit Schockwellen aus und führte zu einem dramatischen Anstieg antisemitischer Vorfälle, auch in Deutschland.
Alltägliche Anfeindungen und die Frage der Zukunft
Die Bedrohung ist für viele Gemeindemitglieder konkret und im Alltag spürbar. Horowitz berichtet von verschiedenen Vorfällen, die das Gefühl der Unsicherheit verstärken. So wurde der geplante Transfer des israelischen Fußballers Shon Weissmann zum Verein Fortuna Düsseldorf nach Protesten abgesagt – ein Vorgang, der in der Gemeinde aufmerksam verfolgt wurde.
Andere Mitglieder berichten von feindseligen Blicken, wenn sie auf der Straße Hebräisch sprechen, oder entdecken israelfeindliche Schmierereien in ihren Wohnhäusern. Diese Erlebnisse führen zu ernsten Diskussionen innerhalb der Gemeinde. „In einigen Diskussionen haben Menschen offen angesprochen, dass sie in Deutschland keine Zukunft mehr für sich sehen“, so Horowitz.
„Die Menschen gehen noch nicht. Aber sie sitzen auf gepackten Koffern.“ – Oded Horowitz, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf
Er zieht einen beunruhigenden Vergleich zur deutschen Geschichte: „Ich sehe vor meinem geistigen Auge die 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts.“ Diese historische Parallele unterstreicht die Ernsthaftigkeit der aktuellen Lage.
Sorge und Enttäuschung auch in Essen
Die Situation in Düsseldorf ist kein Einzelfall. Auch Schalwa Chemsuraschwili, Co-Vorsitzender der Jüdischen Kultusgemeinde in Essen mit etwa 900 Mitgliedern, bestätigt die wachsende Verunsicherung. „Ich spüre den Hass“, sagt er deutlich. Auch in seiner Gemeinde wird die Frage diskutiert, ob Deutschland und Europa langfristig ein sicherer Ort für Juden bleiben können.
Chemsuraschwili kritisiert eine oft einseitige Berichterstattung über den Nahostkonflikt, die Israel überwiegend negativ darstelle und andere globale Konflikte in den Hintergrund dränge. Er betont, dass er den Schmerz von Menschen mit Verwandten im Gazastreifen nachvollziehen könne. „Ich wünsche mir auch aus tiefstem Herzen Frieden“, erklärt er.
Jedoch beobachtet er, dass berechtigter Protest häufig in Antisemitismus und offenen Hass gegen Israel umschlägt. Für ihn ist es unverständlich, wenn sich bestimmte gesellschaftliche Gruppen mit der Hamas solidarisieren. „Wenn die Friedensbewegung oder queere Menschen für die Hamas demonstrieren, ist die Welt verrückt geworden.“
Zunehmende Gefahr in Europa
Die Sorge vor Gewalt ist nicht unbegründet. Oded Horowitz verweist auf konkrete Ereignisse, die das Bedrohungspotenzial verdeutlichen. Dazu gehören der Anschlag von Manchester und die Aufdeckung einer Hamas-Terrorzelle in Berlin. Diese Vorfälle zeigen, dass die Gefahr für jüdisches Leben in Europa real ist.
Der Ruf nach gesellschaftlicher Verantwortung
Ein zentraler Punkt, den beide Gemeindevertreter ansprechen, ist der Mangel an Unterstützung durch die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft. Horowitz berichtet von einem Vorfall am Jom Kippur in Bonn, dem höchsten jüdischen Feiertag. Dort fand eine Demonstration von Israel-Gegnern in der Nähe einer Synagoge statt.
„Die Polizei hat den Gemeindemitgliedern gesagt, sie sollten sicherheitshalber nicht hinausgehen“, schildert Horowitz die Situation. Er vermisst eine aktive Auseinandersetzung mit Antisemiten und fordert, die Mehrheitsgesellschaft müsse „endlich aus ihrer Passivität aufwachen“.
Auch Bastian Fleermann, Leiter der Mahn- und Gedenkstätte in Düsseldorf, beobachtet die gesellschaftliche Stimmung mit Sorge. Er führt täglich Debatten mit jungen Menschen und stellt fest, dass die Propaganda der Hamas bei ihnen verfängt. Zwar sei es in der Gedenkstätte noch nicht zu einem Eklat gekommen, aber „wir sind sehr vorsichtig geworden“.
Fleermann äußert seine Enttäuschung über die geringe Anteilnahme bei Gedenkveranstaltungen für die Opfer des 7. Oktober. Er erwartet oft nur einen kleinen Kreis von Menschen, die ihre Solidarität mit Israel zeigen. „Das löst schon eine gewisse Verbitterung bei mir aus“, gibt er zu. Die Stimmen aus den jüdischen Gemeinden machen deutlich: Die Angst ist real und der Wunsch nach einem klaren, unmissverständlichen gesellschaftlichen Rückhalt wird immer lauter.




