In Zeiten gesellschaftlicher Unsicherheit und weit verbreiteter Krisenstimmung bietet ein bekanntes Märchen der Brüder Grimm unerwartete Lösungsansätze. Der Kölner Psychologe Stephan Grünewald analysiert die Geschichte der Bremer Stadtmusikanten als eine zeitlose Anleitung für gemeinschaftliches Handeln und die Überwindung von Widrigkeiten.
Laut Grünewald, Gründer des Rheingold Instituts, zeigt die Erzählung, wie aus individueller Not eine starke Gemeinschaft entstehen kann, die gemeinsam mehr erreicht als die Summe ihrer Teile. Diese Botschaft sei gerade heute von großer Bedeutung.
Wichtige Erkenntnisse
- Ein gemeinsames Schicksal kann Menschen aktivieren und verbinden.
- Das Eingeständnis eigener Schwächen ist die Grundlage für erfolgreiche Zusammenarbeit.
- Ein gemeinsames Ziel motiviert zum Aufbruch, auch wenn es nie erreicht wird.
- In der Gemeinschaft können individuelle Stärken zur vollen Entfaltung kommen.
- Die Gesellschaft unterschätzt oft ihre kollektiven Fähigkeiten zur Krisenbewältigung.
Ein Märchen als Spiegel der Gesellschaft
Wenn die Tage kürzer werden und eine allgemeine Verunsicherung spürbar ist, neigen viele Menschen zu Rückzug und Pessimismus. Stephan Grünewald sieht in dieser Stimmung eine Parallele zur Ausgangslage im Märchen der Bremer Stadtmusikanten. Er beschreibt die aktuelle gesellschaftliche Lage als von einem Gefühl der Ausweglosigkeit geprägt.
Das Märchen, so der Psychologe, biete einen Gegenentwurf zu dieser Lähmung. Es erzähle von einer „finalen Zuversicht“, die Menschen dazu befähigt, trotz widriger Umstände mutig in eine ungewisse Zukunft zu blicken und neue Wege zu gehen.
Die gemeinsame Not als Auslöser
Die Geschichte beginnt mit vier Tieren, die jeweils vor dem Ende ihres Lebens stehen. Der Esel soll kein Futter mehr bekommen, der Hund soll erschlagen, die Katze ertränkt und der Hahn im Suppentopf landen. Diese Bedrohung ihres Lebens schafft eine gemeinsame Basis.
„Etwas Besseres als den Tod findest du überall“
Dieser Satz wird zum zentralen Motto der ungleichen Gefährten. Laut Grünewald ist es diese „aktivierende Not“, die die vier Tiere aus ihrer Lethargie reißt und sie zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammenschweißt. Sie beschließen, ihr altes Leben hinter sich zu lassen und gemeinsam aufzubrechen.
Die Bedeutung eines Ziels
Obwohl die Tiere nie in Bremen ankommen, ist das Ziel, dort Stadtmusikanten zu werden, entscheidend. Grünewald betont, dass es weniger darauf ankommt, ein Ziel tatsächlich zu erreichen. Viel wichtiger sei es, eine Perspektive zu haben, die zum Handeln motiviert und die Energie in eine positive Richtung lenkt.
Die Stärke der Unvollkommenheit
Ein zentraler Aspekt für das Gelingen von Gemeinschaft ist laut Grünewald die Akzeptanz der eigenen Schwächen. Erst wer seine Unvollkommenheit anerkennt, kann andere als wertvolle Ergänzung sehen. „Wer glaubt, perfekt und allmächtig zu sein, bleibt a-sozial“, erklärt der Psychologe.
Das Märchen beschreibt offen die Defizite der Tiere: Der Esel ist zu schwach zum Tragen, der Hund zu langsam für die Jagd, die Zähne der Katze sind stumpf, und der Hahn kann nicht mehr laut krähen. Gleichzeitig werden aber auch ihre verbliebenen Stärken hervorgehoben.
Individuelle Fähigkeiten im Kollektiv
- Der Esel: Kann nicht mehr Säcke tragen, aber die Laute spielen.
- Der Hund: Ist nicht mehr jagdtauglich, aber kann die Pauke schlagen.
- Die Katze: Hat stumpfe Zähne, versteht sich aber auf die Nachtmusik.
- Der Hahn: Verfügt trotz nachlassender Kraft noch über eine gute Stimme.
Diese Kombination unterschiedlicher Talente macht die Gruppe stark.
Gemeinschaft als Gewinn an Größe
Die wohl bekannteste Darstellung der Bremer Stadtmusikanten zeigt die Tiere, wie sie aufeinander stehen und eine imposante Gestalt bilden. Für Grünewald ist dies ein starkes Sinnbild dafür, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile.
„Im Zusammenwachsen wachsen die Einzelnen über sich hinaus“, so Grünewald. Indem sie buchstäblich aufeinander bauen, gelingt es den Tieren, eine Räuberbande aus einem Haus zu vertreiben. So sichern sie sich eine neue Heimat und beweisen ihre Durchsetzungsfähigkeit als Kollektiv.
Lehren für aktuelle Krisen
Grünewald überträgt diese Erkenntnisse auf die heutige Zeit und spricht von einer „gravierenden Könnensunterschätzung“ in der Gesellschaft. Viele Menschen seien sich des eigenen Potenzials und der kollektiven Stärke nicht bewusst. „Wir können viel mehr, als wir uns zutrauen“, stellt er fest.
Er verweist auf jüngste Beispiele, in denen die Gesellschaft ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis gestellt hat:
- Die Corona-Pandemie: Trotz Lockdowns und Kontaktverboten gelang es den Menschen, sich durch Aktivitäten wie Puzzeln, Werkeln und Putzen selbst zu stabilisieren.
- Die Energiekrise: Durch eine kollektive Anstrengung konnten rund 20 Prozent Energie eingespart werden, was einen Gasmangel verhinderte.
- Die Flutkatastrophe an Ahr und Erft: Die Katastrophe löste eine beispiellose Welle der Hilfsbereitschaft und Solidarität aus.
Diese Ereignisse zeigen, dass in Krisenmomenten oft ungeahnte Kräfte freigesetzt werden. Voraussetzung sei jedoch der Mut, sich von alten, unwirtlichen Verhältnissen zu trennen und gemeinsam neue Wege zu beschreiten.
Der Weg aus der Krise
Die Botschaft des Märchens ist für Grünewald klar: Wenn wir in der Krise auf die Kraft der Verbundenheit vertrauen und bereit sind, aufeinander zu bauen, können wir Lösungen finden, die vorher undenkbar schienen. Es gehe darum, gestaute Energie zu kanalisieren und gemeinsam eine bessere Zukunft zu gestalten.
Buchvorstellung in Köln
Die Analysen von Stephan Grünewald sind Teil seines neuen Buches „Wir Krisenakrobaten. Psychogramm einer verunsicherten Gesellschaft“, das im Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen ist. Die Buchpremiere findet am Donnerstag, den 16. Oktober, um 19:30 Uhr in der Karl-Rahner-Akademie (Jabachstraße 4-8, 50676 Köln) statt. Im Rahmen der Talkreihe „frank & frei“ spricht Joachim Frank mit dem Autor über seine Diagnosen zur aktuellen gesellschaftlichen Lage.




