Zum Tag der Deutschen Einheit zeichnet der Kölner Psychologe Stephan Grünewald ein düsteres Bild der gesellschaftlichen Stimmung in Deutschland. In seinem neuen Buch analysiert er eine tiefgreifende Verunsicherung und Spaltung, die durch eine Serie von Krisen wie die Corona-Pandemie, den Ukraine-Krieg und die wirtschaftliche Flaute verstärkt wird.
Laut Grünewald ziehen sich viele Menschen ins Private zurück und blenden die bedrohliche Außenwelt aus. Diese Entwicklung, so der Experte, lähmt die Gesellschaft und verhindert notwendige Veränderungen.
Wichtige Erkenntnisse
- Eine Studie des Rheingold-Instituts zeigt: 89 Prozent der Deutschen empfinden die Gesellschaft als gespalten.
- Permanente Krisen führen zu einem Gefühl der Ohnmacht und zum Rückzug ins Private.
- Die politische Polarisierung spaltet die Gesellschaft in unversöhnliche Lager.
- Grünewald sieht eine ungenutzte „gestaute Bewegungsenergie“ in der Bevölkerung, die für positive Veränderungen mobilisiert werden könnte.
Der Dauerzustand der Krise und seine Folgen
Von der Corona-Pandemie über den Krieg in der Ukraine bis hin zu Inflation und Rezession – die Krisen der letzten Jahre sind für viele Deutsche zu einem permanenten Begleiter geworden. Der Psychologe Stephan Grünewald vom Kölner Rheingold-Institut beschreibt in seinem neuen Buch „Wir Krisenakrobaten“ eine Nation, die sich in einem Zustand ständiger Anspannung befindet.
Diese Dauerkrise erzeugt bei vielen Menschen ein Gefühl der Machtlosigkeit. „Das führt dazu, dass man sich ins private Schneckenhaus zurückzieht und zwischen der eigenen Welt und der bedrohlichen Außenwelt einen Verdrängungsvorhang spannt“, erklärt Grünewald. Die Folge sei eine paradoxe Situation: Während die allgemeine Lage als düster empfunden wird, schätzen viele ihre persönliche Situation als positiv ein.
Persönlicher Optimismus, gesellschaftlicher Pessimismus
Umfragen, unter anderem vom Allensbach-Institut, bestätigen diesen Trend seit Monaten. Die Menschen konzentrieren sich auf ihr direktes Umfeld, um ein Gefühl der Kontrolle und Zuversicht zu bewahren. „Diese Minimierung des Gesichtskreises führt zu einer Maximierung der persönlichen Zuversicht“, so Grünewald.
Ein weiterer Bewältigungsmechanismus ist laut dem Psychologen die Flucht in die Vergangenheit. Der aktuelle Retro-Trend in Filmen und Serien, der die Geborgenheit der 70er und 80er Jahre wiederbelebt, sei ein Versuch, die vertraute Normalität festzuhalten. Grünewald warnt jedoch: „Der Blick in den Rückspiegel kaschiert eine diffuse Endzeitstimmung.“
Spaltung der Gesellschaft: Von Einheit keine Spur
Besonders besorgniserregend ist die von Grünewald diagnostizierte „Verbundenheitskrise“. Der Tag der Deutschen Einheit steht im starken Kontrast zur gefühlten Realität vieler Bürger. Eine aktuelle Studie des Rheingold-Instituts untermauert dies mit einer alarmierenden Zahl.
89 Prozent der Befragten gaben in einer Rheingold-Studie an, dass sie die deutsche Gesellschaft als entzweit empfinden. Das Gefühl der Einheit ist demnach kaum noch vorhanden.
Diese Spaltung begann sichtbar während der Corona-Pandemie mit der Trennung in Lager wie „Maskenträger“ und „Maskenverweigerer“. Dieses Muster der Polarisierung setzt sich laut Grünewald fort und prägt heute viele gesellschaftliche Debatten.
„Heute spaltet sich die Wirklichkeit je nach Perspektive auf in 'grüne Spinner' und 'radikale Rechte', in SUV-Besitzer und Fahrradfahrer, in Ossis und Wessis, in Veganer und Fleischesser, in 'die da oben' und 'wir da unten'.“
Diese Polarisierung sei ein verzweifelter Versuch, in einer komplexen Welt Ordnung zu schaffen. Sie schaffe klare Fronten und stärke den Zusammenhalt im eigenen Lager, mache aber die Gegenseite zum Sündenbock. Für die Demokratie sei diese Entwicklung pures Gift, da die Streitkultur im Privaten praktisch zum Erliegen komme und Menschen mit anderer Meinung aus dem Bekanntenkreis aussortiert würden.
Politische Lähmung und ungenutzte Energie
Die zentrale These in Grünewalds Buch ist, dass diese gesellschaftliche Lähmung zu einer „gestauten Bewegungsenergie“ führt. Die Deutschen hätten prinzipiell die Kraftreserven, um Probleme anzugehen, doch diese Energie werde nicht freigesetzt. Ein Hauptgrund dafür sei die Wahrnehmung der Politik.
Der ständige Streit innerhalb der Regierungskoalitionen nähre das Gefühl, dass die Politik mit sich selbst beschäftigt und nicht mehr handlungsfähig sei. „Lachender Dritter ist die AfD“, so die Analyse des Psychologen. Die Partei profitiere von der Frustration und dem Gefühl der politischen Ohnmacht.
Grünewald fordert von der Politik mehr Ehrlichkeit. Politiker müssten der Bevölkerung die dramatische Lage in Bereichen wie der Rentenfinanzierung oder der Verteidigungsfähigkeit klar kommunizieren und den Bürgern auch etwas abverlangen.
„Die Bürgerinnen und Bürger spüren unterschwellig, dass sie nicht immer nur Tischlein-deck-dich und Goldesel bekommen können, sondern dass irgendwann auch mal der Knüppel aus dem Sack raus muss“, argumentiert er. Es gebe eine brachliegende Sehnsucht nach gemeinschaftlichem Handeln.
Wie kann die Gemeinschaft wieder gestärkt werden?
Um die gestaute Energie freizusetzen und eine Aufbruchsstimmung zu erzeugen, reichen laut Grünewald vage Phrasen wie „Deutschland zukunftsfest machen“ nicht aus. Es brauche konkrete, sinnstiftende Projekte, bei denen jeder Einzelne einen Beitrag leisten kann.
Als positives Beispiel nennt er die Reduzierung des Energieverbrauchs im Winter 2022/23. Hier gab es ein klares Ziel, das von breiten Teilen der Gesellschaft mitgetragen wurde.
- Klares Ziel: Unabhängigkeit von russischem Gas.
- Individueller Beitrag: Jeder konnte durch bewusstes Heizen und Sparen mitwirken.
- Gerechtigkeit: Das Gefühl, dass alle mitmachen – private Haushalte, Industrie und Regierung.
Ein weiteres Beispiel für die vorhandene Solidarität sei die enorme Hilfsbereitschaft nach der Flutkatastrophe von 2021. „Wenn die Notwendigkeit zu solidarischem Handeln wirklich greifbar wird, dann ist enorme Kraft und Hilfsbereitschaft vorhanden“, so Grünewald.
Der Weg aus der Komfortzone sei zwar mit Widerstand verbunden, doch das Gefühl, an einem großen, gemeinsamen Projekt beteiligt zu sein, könne befreiend wirken. Dies stärke nicht nur den Stolz auf das Land, sondern auch auf die eigene Handlungsfähigkeit.




