In Köln und ganz Nordrhein-Westfalen steigt die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die dem Unterricht fernbleiben. Aktuelle Zahlen der Bezirksregierung Köln belegen einen deutlichen Anstieg der Bußgeldverfahren gegen Eltern, deren Kinder die Schulpflicht verletzen. Die Gründe dafür sind vielfältig und reichen von Leistungsdruck über Mobbing bis hin zu familiären Problemen, wobei die Corona-Pandemie die Situation zusätzlich verschärft hat.
Spezielle Projekte und Vereine in der Stadt bieten betroffenen Jugendlichen eine neue Perspektive und versuchen, sie schrittweise wieder in einen strukturierten Alltag zu integrieren. Zwei Jugendliche berichten von ihren persönlichen Wegen aus der Schulverweigerung und ihren Hoffnungen für die Zukunft.
Das Wichtigste in Kürze
- Die Zahl der Bußgeldverfahren wegen Schulverweigerung im Regierungsbezirk Köln stieg von 684 im Jahr 2023 auf 913 im Jahr 2024.
 - Die Corona-Pandemie hat bestehende Probleme wie Leistungslücken und soziale Isolation bei Schülern verstärkt.
 - Ursachen sind oft eine Mischung aus Schulangst, Mobbing, familiären Krisen und psychischen Belastungen.
 - Spezialisierte Einrichtungen wie das Handwerkerinnenhaus und der Verein Apeiros unterstützen Jugendliche bei der Reintegration.
 
Alarmierende Zahlen aus Köln und NRW
Die offiziellen Daten zeigen einen besorgniserregenden Trend. Im Regierungsbezirk Köln wurden im Jahr 2024 insgesamt 913 Bußgeldverfahren gegen Erziehungsberechtigte eingeleitet, weil ihre Kinder die Schule nicht besuchten. Dies stellt einen Anstieg um rund ein Drittel im Vergleich zum Vorjahr dar, als 684 solcher Verfahren gezählt wurden.
Dieser Anstieg ist kein rein lokales Phänomen. Laut Angaben des nordrhein-westfälischen Schulministeriums ist die Zahl der Verfahren im gesamten Bundesland ebenfalls gestiegen. Während es 2022 noch 6.945 Verfahren gab, erhöhte sich die Zahl auf 7.505 im Jahr 2023 und erreichte 8.076 im Jahr 2024.
Statistiken im Detail
Die Bezirksregierung Köln ist für die Verfolgung von Schulpflichtverletzungen an Gymnasien, Gesamtschulen, Real- und Sekundarschulen sowie Berufskollegs zuständig. Verfahren an Grund-, Haupt- und den meisten Förderschulen fallen in die Zuständigkeit der städtischen Schulämter. Zahlen aus diesem Bereich liegen der Bezirksregierung nicht vor, weshalb von einer hohen Dunkelziffer auszugehen ist.
Die Grenzen der Statistik
Die Zahlen erfassen nicht, warum ein Kind dem Unterricht fernbleibt. Sie unterscheiden nicht zwischen chronischer Schulverweigerung aus Angst oder psychischen Problemen und unerlaubten Urlaubsverlängerungen. Ein Bußgeldverfahren wird laut Bezirksregierung erst dann eingeleitet, wenn alle pädagogischen Maßnahmen ausgeschöpft sind und keine Wirkung zeigen.
Vielfältige Ursachen für das Fernbleiben
Die Gründe, warum junge Menschen den Schulbesuch verweigern, sind komplex und individuell. Experten der Stadt Köln benennen eine Reihe von Faktoren, die dazu beitragen können.
- Schulbezogene Ängste: Dazu zählen Leistungsdruck, Prüfungsangst oder die Furcht vor schlechten Noten.
 - Soziale Probleme: Mobbing durch Mitschüler oder Konflikte mit Lehrkräften können den Schulalltag unerträglich machen.
 - Familiäre Belastungen: Krisen wie die Trennung der Eltern, Krankheiten oder finanzielle Sorgen wirken sich stark auf Kinder aus.
 - Psychische Gesundheit: Depressionen, soziale Ängste oder andere psychische Erkrankungen erschweren den regelmäßigen Schulbesuch.
 - Alternative Anreize: Für manche Jugendliche erscheinen Aktivitäten wie Videospiele oder das Treffen mit Freunden attraktiver als der Unterricht.
 
Die Rolle der Corona-Pandemie
Die Pandemie hat viele dieser Probleme verstärkt. Eine Sprecherin der Stadt Köln erklärte, dass der Wegfall des Präsenzunterrichts zu größeren Leistungslücken geführt habe. Gleichzeitig brach die Schule als wichtiger sozialer Ort weg, was die Isolation vieler Kinder und Jugendlicher verstärkte. Freundschaften konnten nicht wie gewohnt gepflegt werden, was die soziale Entwicklung beeinträchtigte.
Zwei persönliche Geschichten aus Köln
Hinter den abstrakten Zahlen stehen persönliche Schicksale. Die Geschichten von Laura und Can zeigen beispielhaft, wie unterschiedlich die Wege in die Schulverweigerung sein können – und wie Hilfe aussehen kann.
Lauras Weg zurück ins Leben
Für die heute 17-jährige Laura begann alles mit der Trennung ihrer Eltern, als sie zehn Jahre alt war. Der Verlust des Vaters äußerte sich zunächst in starken Bauchschmerzen. Später kamen Mobbing in der Schule und eine diagnostizierte Depression hinzu. Es wurde für sie immer schwieriger, sich morgens zu motivieren, bis sie den Schulbesuch schließlich komplett einstellte.
Der ständige Streit mit ihrer Mutter über die Schule eskalierte im Januar 2023, woraufhin das Jugendamt eingeschaltet wurde. Es folgte ein mehrmonatiger Aufenthalt in einer Tagesklinik. Heute findet Laura im Projekt „Kneifzange“ des Handwerkerinnenhauses in Köln-Nippes neuen Halt. Hier wird sie in einer kleinen Gruppe unterrichtet, psychosozial betreut und arbeitet praktisch in einer Tischlerwerkstatt. Sie lernt wieder Pünktlichkeit und Regelmäßigkeit. „Ich möchte etwas mit Menschen machen, ihnen helfen“, sagt sie über ihre Zukunftspläne.
Cans Kampf gegen die Ablenkung
Auch der 16-jährige Can (Name geändert) fand den Weg zur Schule nicht mehr. Er beschreibt sich selbst als jemanden, der sich leicht ablenken und provozieren ließ. „Ich war stressgeil“, sagt er rückblickend. Im lauten Klassenzimmer konnte er sich nicht konzentrieren und machte stattdessen Unsinn. Nach einer Massenschlägerei musste er die Realschule verlassen.
„Ich habe mich früher schnell ablenken und auch provozieren lassen. Ich war stressgeil.“
Auf der Hauptschule kam er mit den Lehrkräften nicht zurecht. Auf Empfehlung des Jugendamtes kam er schließlich zum Verein Apeiros, der an Standorten in Poll und Lindenthal tagesstrukturierende Betreuung anbietet. Anfangs ließ er die Sozialarbeiter, die ihn abholten, vor verschlossener Tür stehen. Doch sie blieben hartnäckig.
Inzwischen schätzt Can die ruhige Lernatmosphäre und die individuelle Betreuung bei Apeiros. „Man kann sich hier viel besser konzentrieren.“ Sein Ziel ist klar: Er will den Realschulabschluss nachholen, um später einen guten Job zu finden und eine Familie zu gründen.
Unterstützungsangebote zeigen Wirkung
Projekte wie die des Handwerkerinnenhauses oder des Vereins Apeiros sind für viele Jugendliche die letzte Chance, wieder Anschluss zu finden. Benedikt Schoening, Leiter der Apeiros-Standorte in Köln und Leverkusen, beobachtet jedoch eine beunruhigende Entwicklung. „Nicht nur die Rate an Schulverweigerern ist gestiegen, auch der Betreuungsbedarf hat sich seit Corona deutlich erhöht“, erklärt er.
Früher habe man im Schnitt sechs Monate gebraucht, um ein Kind wieder fit für Schule oder Ausbildung zu machen. Heute dauere dieser Prozess oft acht bis zwölf Monate. Laut Schoening haben die Jugendlichen größere Schwierigkeiten, sich in das Regelsystem Schule einzufügen. Die intensive Betreuung in kleinen Gruppen ist daher wichtiger denn je, um ihnen den Weg zurück in einen geordneten Alltag zu ebnen.




