Im November 2021 erschütterte ein Verbrechen Köln: Die 24-jährige Derya Seyhun und ihr 4-jähriger Sohn Kian wurden ermordet. Der Täter war der Vater des Kindes. Aus der tiefen Trauer um ihre Freundin schöpften zwei junge Frauen die Kraft, eine Bewegung zu starten, die auf das Thema Femizid aufmerksam macht und politischen Wandel fordert.
Das Wichtigste in Kürze
- Derya Seyhun und ihr Sohn Kian wurden im November 2021 in Köln vom Vater des Kindes ermordet.
- Der Täter wurde zu einer lebenslangen Haftstrafe mit besonderer Schwere der Schuld verurteilt.
- Zwei Freundinnen von Derya haben nach der Tat die Initiative "femizide_stoppen" gegründet.
- Sie setzen sich für Aufklärung über geschlechtsspezifische Gewalt und die Umsetzung der Istanbul-Konvention ein.
Ein Treffen mit tödlichen Folgen
Für die 24-jährige Derya Seyhun aus Köln-Kalk sollte es ein wichtiger Schritt für ihren Sohn Kian sein. Der Vierjährige fragte immer öfter nach seinem Vater. Derya, die ihn alleine aufzog, während sie studierte und jobbte, entschied sich, den Kontakt zu Anil G. herzustellen. Dieser wusste bis dahin nichts von der Existenz seines Sohnes.
Am 14. November 2021 kam es zu einem Treffen am Niehler Hafen in Köln. Derya ging davon aus, dass Anil G. seinen Sohn kennenlernen wollte. Doch der Mann, der kurz vor seiner Hochzeit stand, hatte einen anderen Plan. Er wollte verhindern, dass seine Familie und seine zukünftige Frau von dem Kind erfahren. Er lockte Mutter und Sohn an den Rhein, um sie zu töten.
Einen Tag später, am 15. November, wurde eine Frauenleiche aus dem Rhein geborgen. Es war Derya Seyhun. Kurze Zeit später wurde auch der kleine Kian tot im Rhein bei Köln-Worringen gefunden. Anil G. wurde festgenommen und später wegen zweifachen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Das Gericht stellte zudem die besondere Schwere der Schuld fest.
Hintergrund: Besondere Schwere der Schuld
Die Feststellung der "besonderen Schwere der Schuld" bei einer lebenslangen Freiheitsstrafe bedeutet, dass eine vorzeitige Entlassung auf Bewährung nach 15 Jahren so gut wie ausgeschlossen ist. Das Gericht prüft erst nach Ablauf einer deutlich längeren Haftzeit, ob eine Entlassung in Frage kommt.
Die letzte Nachricht und der unfassbare Schock
Für Deryas beste Freundinnen Saskia und Lilly brach eine Welt zusammen. Saskia, die an diesem Abend mit Derya zum gemeinsamen Lernen für die Universität verabredet war, erhielt die letzte Nachricht von ihr. „Wir hatten uns zum Zoomen verabredet“, erinnert sich Saskia. Derya schrieb ihr, dass sie spontan doch nicht könne. Ihre Worte waren: „Wieso, weshalb, warum erkläre ich dir morgen.“
Zu dieser Erklärung kam es nie. Als Saskia am nächsten Tag von einer Freundin hörte, dass die im Rhein gefundene Frau Derya sein könnte, wollte sie es nicht glauben. „Meine erste Reaktion war: So entstehen Gerüchte, das kann nicht wahr sein. Wir sind ganz normale Frauen. Wie kann es sein, dass wir ermordet werden und man uns dann im Rhein findet?“ Die traurige Gewissheit kam mit einem Anruf von Deryas Familie.
„Ich sehe mich noch heute, wie ich in meinem WG-Zimmer sitze und meine Schwester bei mir ist und wir uns einfach nur umarmen. Wir konnten nicht verstehen, dass ein Mensch, den wir so sehr lieben, umgebracht wurde.“
Auch Lilly war fassungslos. Besonders der Gedanke an den kleinen Kian, der zu diesem Zeitpunkt noch vermisst wurde, war unerträglich. „Bis er nicht gefunden wurde, habe ich gedacht, das stimmt alles nicht, das kann nicht sein. Es bringt doch keiner ein Kind um“, sagt sie heute.
Aus Trauer wird Engagement
Noch in der Nacht des schrecklichen Fundes schrieb Lilly an Saskia, dass es ein Femizid war. Ein Begriff, den Saskia bis dahin nicht kannte. „Als sie mir erklärte, was ein Femizid ist, konnte ich dieses Wort mit Derya und dem Gefühl, das ich empfand, verbinden“, erklärt Saskia. Diese Erkenntnis wurde zum Motor ihres Handelns.
Die Beerdigung von Derya und Kian fand am 25. November 2021 statt – dem Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen. Die Freundinnen entdeckten in Deryas Kalender, dass sie selbst geplant hatte, an diesem Tag zu einer Demonstration zu gehen. Nach der Beerdigung gingen Saskia und Lilly dorthin, um im Gedenken an ihre Freundin ein Zeichen zu setzen. Kurze Zeit später organisierten sie einen eigenen Demonstrationszug, an dem rund 2.000 Menschen teilnahmen.
Die Initiative „femizide_stoppen“
Um ihre Botschaft weiterzutragen und andere zu erreichen, gründeten die beiden den Instagram-Kanal „femizide_stoppen“. „Wir versuchen aufzuklären, zu vernetzen und solidarisieren uns mit Angehörigen von Femizidopfern sowie anderen Aktivistinnen und Aktivisten“, erklärt Lilly. Die Arbeit war für sie auch eine Form der Trauerbewältigung.
Was ist ein Femizid?
Ein Femizid ist die Tötung einer Frau, weil sie eine Frau ist. Oft geschehen diese Taten im Kontext von Partnerschaftsgewalt, Kontrolle oder patriarchalen Ehrvorstellungen. Die Initiative von Lilly und Saskia betont den geschlechtsspezifischen Aspekt, der sich von anderen Tötungsdelikten an Frauen, wie etwa bei einem Raubüberfall, unterscheidet.
Forderungen an Politik und Gesellschaft
Die Aktivistinnen kritisieren, dass Deutschland seinen Verpflichtungen aus der Istanbul-Konvention nur unzureichend nachkommt. Dieses Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt wurde von Deutschland ratifiziert, die Umsetzung sei aber mangelhaft.
Lilly und Saskia fordern konkrete Maßnahmen:
- Mehr Frauenhausplätze: Es fehlt an sicheren Zufluchtsorten für von Gewalt bedrohte Frauen.
- Fortbildungen: Richter, Staatsanwälte und Polizisten müssen besser für das Thema geschlechtsspezifische Gewalt sensibilisiert werden.
- Prävention: Die Aufklärung über Gleichberechtigung muss bereits in Kindergärten und Schulen beginnen.
Ihre Zählung von Femiziden unterscheidet sich von der offiziellen Statistik des Bundeskriminalamts (BKA). Während das BKA jede Tötung einer Frau zählt, wenden die Aktivistinnen eine engere Definition an, die das geschlechtsspezifische Motiv in den Vordergrund stellt. Ihrer Analyse zufolge wird in Deutschland jeden zweiten Tag eine Frau Opfer eines Femizids.
Der unermüdliche Einsatz der beiden Freundinnen hält die Erinnerung an Derya und Kian lebendig. Auf die Frage, was Derya zu ihrem Engagement sagen würde, antwortet Lilly: „Ich glaube, sie wäre stolz auf uns. Sie würde aber auch sagen: ‚Lebt und genießt euer Leben.‘“




