Köln nach 1945: Eine Stadt in Trümmern, gezeichnet von den tiefen Wunden des Krieges. Für eine ganze Generation von Kindern war diese zerstörte Landschaft jedoch nicht nur Kulisse des Wiederaufbaus, sondern auch ihr alltäglicher Lebensraum. Zeitzeugenberichte zeichnen ein eindrückliches Bild einer Kindheit zwischen gefährlichen Abenteuern in Ruinen, dem ständigen Kampf gegen den Hunger und kleinen Momenten unbeschwerter Freude.
Während die Erwachsenen mit dem Überleben und dem mühsamen Wiederaufbau beschäftigt waren, eroberten sich die Kinder die zerstörte Stadt auf ihre eigene Weise. Sie verwandelten die Überreste von Wohnhäusern und Fabriken in ihre Spielplätze – ein heute unvorstellbares Szenario, das damals zur Normalität gehörte.
Das Wichtigste in Kürze
- Zeitzeugen beschreiben ihre Kindheit im zerstörten Köln der Nachkriegszeit.
- Ruinen dienten als gefährliche, aber alltägliche Abenteuerspielplätze für Kinder.
- Lebensmittelkarten, Mangel und das sogenannte „Fringsen“ prägten den Alltag der Familien.
- Trotz der Zerstörung fanden die Menschen Wege, um Normalität und Freude zu erleben, wie beim Straßenkarneval.
Der gefährliche Abenteuerspielplatz Ruine
Für die Kinder der Nachkriegszeit waren die Ruinen Kölns ein riesiger, frei zugänglicher Spielplatz. Was heute als lebensgefährlich gilt, war damals ein fester Bestandteil des Alltags. Friedrich Koch, Jahrgang 1940, erinnert sich an eine große Ruine an der Ecke Heinsbergstraße und Rathenau-Platz. „Das Interessante für uns waren die noch vorhandenen Wasserrohre, die noch von ganz unten bis zur 4. Etage reichten“, erzählt er.
Mutige Jungen kletterten an den Rohren empor. „Kräftigere Jungs hangelten sich bis ganz nach oben, ich als sehr schmächtiges Kerlchen war stolz, wenn ich es bis zur 1. Etage schaffte“, so Koch. Die Gefahr war allgegenwärtig. Eines Nachts stürzte die Ruine in sich zusammen. Wäre dies am Tag geschehen, hätte es viele Kinder das Leben kosten können. Doch nach einem kurzen Schreck ging das Spiel in der nächsten Ruine einfach weiter.
Auch Dieter Paulus, ebenfalls Jahrgang 1940, berichtet von waghalsigen Aktionen. Er und seine Spielkameraden kletterten in Sülz über die Dachbalken unbewohnter Häuser, da die Ziegel fehlten. Sie gelangten in voll eingerichtete, verlassene Wohnungen. „Da kam uns eine Idee: Wir packten uns einige kleine Möbel und warfen sie vom Balkon in den Garten, wo sie krachend zersprangen. Was für ein Erlebnis!“, beschreibt Paulus die damalige kindliche Sichtweise.
Eine Stadt aus Schutt
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs glich Köln einer Trümmerwüste. Schätzungen zufolge waren rund 95 % der Innenstadt zerstört. Die Beseitigung der etwa 30 Millionen Kubikmeter Schutt dauerte Jahrzehnte und prägte das Stadtbild bis weit in die 1950er-Jahre hinein.
Alltag im Mangel: Lebensmittelkarten und „Fringsen“
Das Leben war von Knappheit geprägt. Lebensmittel waren streng rationiert und nur gegen Lebensmittelkarten erhältlich. Helmut Rupsch, dessen Vater 1945 in Nippes ein Milchgeschäft wiedereröffnete, schildert den enormen Aufwand, der mit diesem System verbunden war.
„Beim Kauf musste der Kunde die entsprechende Marke abgeben. Der Händler durfte nur gegen Vorlage einer gültigen Karte verkaufen“, erklärt Rupsch. Die Händler mussten die Marken nach Produktgruppen sortiert sammeln, auf Karten kleben und beim städtischen Ernährungsamt abliefern, um neue Ware einkaufen zu können. Dies geschah oft bis tief in die Nacht.
„Mit Speck fängt man Mäuse, dachte sich meine Mutter. Sie offerierte zur Stärkung Kakao und Butterbrote mit Mainzer. Nach anfänglicher Skepsis wurde dieses ungewöhnliche Gedeck sehr beliebt.“
Die Lebensmittelkartenpflicht wurde in Köln erst im Mai 1950 vollständig aufgehoben. Bis dahin war die ständige Suche nach Essbarem und Brauchbarem überlebenswichtig. In diesem Zusammenhang wurde das sogenannte „Fringsen“ zu einem geflügelten Wort – das Organisieren von Lebensnotwendigem, oft aus verlassenen Beständen. Dieter Paulus erinnert sich, wie er als Kind bei der Plünderung einer Tiefgarage noch zwei Tafeln mit Trockenspiritus-Päckchen ergattern konnte.
Ein neues Leben aufbauen
Wohnraum war ebenso knapp wie Nahrung. Viele Familien waren ausgebombt oder evakuiert worden und kehrten nun in eine zerstörte Stadt zurück. Margot Hagmann, 1946 geboren, erzählt von der mühsamen Wohnungssuche ihrer Eltern. Bis Ende 1949 lebte die Familie getrennt, bis die Eltern in der Bismarckstraße eine Zwei-Zimmer-Trümmerwohnung im Souterrain eines Hinterhauses ausbauen konnten.
Die Bedingungen waren einfach. „Dort war die Küche warm. Durch die Nähe des Südbahnhofes hatte meine Tante ausreichend Briketts – fringsen – im Keller. Sogar ein warmer Backstein wurde uns ins Bett gelegt!“, erinnert sich Hagmann an die ersten Wochen bei ihrer Tante. Erst 1953 zog die Familie in eine 50-Quadratmeter-Neubauwohnung in Buchforst – ein großer Fortschritt.
Was bedeutet „fringsen“?
Der Begriff geht auf den Kölner Erzbischof Josef Kardinal Frings zurück. In seiner Silvesterpredigt 1946 rechtfertigte er den Diebstahl von Kohle und Lebensmitteln aus Not als erlaubt. Daraufhin wurde das Organisieren von Überlebensnotwendigem im Volksmund als „fringsen“ bezeichnet.
Momente der Normalität und Hoffnung
Trotz der allgegenwärtigen Zerstörung und des Mangels gab es auch Lichtblicke und den Versuch, ein Stück Normalität zu bewahren. Herbert Meissner, Jahrgang 1948, teilt Bilder seiner Einschulung 1951 in Höhenberg. Die Kinder blicken hoffnungsvoll in die Kamera, während im Hintergrund die Ruinen der Erfurter Straße zu sehen sind.
Auch der Karneval fand wieder statt, wenn auch in bescheidenerem Rahmen. Ein Foto von 1953 zeigt einen „Zöchelche“, einen privat organisierten Musiktrupp, der durch die Olpener Straße in Höhenberg zieht. „Kinder marschieren begeistert mit“, schreibt Meissner dazu. Diese kleinen Feste waren wichtige Momente der Gemeinschaft und Lebensfreude.
Spielplätze gab es kaum, doch die Kinder waren erfinderisch. Ein weiteres Bild von Herbert Meissner zeigt Jungen, die 1952 auf der zerstörten Tribüne des Fußballplatzes von Vingst 05 turnen. Der beschädigte Platz wurde zu einem „wunderbaren Turnparadies“. Diese Erinnerungen zeigen die unglaubliche Widerstandsfähigkeit und den Lebensmut einer Generation, deren Kindheit für immer mit den Trümmern Kölns verbunden bleiben wird.




