Ein Karton, achtlos auf einem Stromkasten im Kölner Agnesviertel abgestellt, entpuppte sich 1990 als historischer Schatz. Eine damals 18-jährige Frau entdeckte darin Negative, die jahrzehntelang als verschollen galten. Die Aufnahmen dokumentieren mit eindringlicher Deutlichkeit die Besuche Adolf Hitlers in Köln und zeichnen ein Bild der damaligen Stimmung in der Stadt.
Das Wichtigste in Kürze
- Ein Konvolut von über 200 Fotonnegativen wurde 1990 zufällig im Sperrmüll in Köln gefunden.
- Die Aufnahmen zeigen Adolf Hitler bei zwei Besuchen in Köln in den Jahren 1934 und 1936.
- Ein zentrales Foto dokumentiert Hitlers Fahrt durch Ehrenfeld, umgeben von jubelnden Menschenmassen.
- Das NS-Dokumentationszentrum konnte den Amateurfotografen Josef Neufeind als Urheber identifizieren.
- Die Bilder widerlegen die Annahme, die Kölner Bevölkerung habe dem Nationalsozialismus überwiegend ablehnend gegenübergestanden.
Ein Sonntag im August 1934
Es ist der Morgen des 26. August 1934, ein Sonntag. In Köln herrscht eine aufgeheizte Atmosphäre. Ein Konvoi offener Fahrzeuge bewegt sich durch die Straßen von Ehrenfeld. In einem der Wagen steht Adolf Hitler und grüßt die Menge. An der Kreuzung Venloer Straße und Ehrenfeldgürtel drückt der Kölner Josef Neufeind auf den Auslöser seiner Kamera. Die Uhr an einer Hausfassade zeigt 9:44 Uhr.
Sein Foto fängt eine Szene ein, die heute befremdlich wirkt. Die Straßen sind gesäumt von Menschen, viele recken den Arm zum Hitlergruß. An den Balkonen hängen Hakenkreuzfahnen. Selbst Kinder sind unter den Zuschauern, die den Diktator bejubeln. Die Aufnahme zeigt Hitler auf dem Weg vom Flugplatz Butzweilerhof zur Kölner Messe, wo er die Saarausstellung besuchen sollte. Propagandaminister Joseph Goebbels begleitete ihn auf dieser Fahrt, die von der NS-Presse als „Triumphzug“ inszeniert wurde.
Hitler in Köln
Insgesamt besuchte Adolf Hitler die Stadt Köln 20 Mal. Die privaten Aufnahmen von Josef Neufeind gehören zu den wenigen existierenden Bildern, die ihn nicht bei offiziellen Staatsakten, sondern inmitten der Bevölkerung im städtischen Alltag zeigen.
Die unglaubliche Entdeckung im Agnesviertel
Dass dieses Foto und über 200 weitere Aufnahmen heute existieren, ist einem reinen Zufall zu verdanken. Mehr als 55 Jahre später, im Herbst 1990, bemerkte die 18-jährige Yvonne Garborini im Agnesviertel eine Kiste auf einem Stromkasten an der Ecke Weißenburgstraße/Ewaldistraße. Als sie auf ihrem Rückweg sah, dass der Karton immer noch dort stand, nahm sie ihn aus Neugier mit nach Hause.
Zusammen mit ihrer Mutter sichtete sie den Inhalt: eine Sammlung von Fotonnegativen. Schnell wurde den beiden Frauen klar, dass sie einen außergewöhnlichen Fund gemacht hatten. Sie erkannten historische Szenen aus dem Köln der 1930er Jahre, darunter auch die Aufnahmen von Hitlers Konvoi. Sie handelten umsichtig und informierten das NS-Dokumentationszentrum (NS-DOK) der Stadt Köln über ihren Fund.
Die Spurensuche der Historiker
Für die Archivare des NS-DOK begann eine detektivische Arbeit. Ibrahim Basalamah, Archivar im NS-DOK, erinnert sich, dass die Aufnahme aus Ehrenfeld zunächst nicht eindeutig zugeordnet werden konnte. Auf der Rückseite eines Abzugs stand sogar die handschriftliche Frage: „Hitler in München?“. Doch ein Detail auf dem Foto brachte den Durchbruch: das Kaufhaus van Exel an der Venloer Straße 350a.
Über eine Firmenbroschüre, die ebenfalls in der Kiste lag, konnte schließlich der Fotograf identifiziert werden. Es handelte sich um Josef Neufeind, einen Prokuristen und Mitinhaber des Modehauses Erb & Co. am Neumarkt. Neufeind war offenbar ein passionierter Amateurfotograf, der die historischen Ereignisse seiner Zeit festhielt.
Der Fotograf Josef Neufeind
Josef Neufeind lebte zum Zeitpunkt der Aufnahme von 1934 am Ehrenfeldgürtel 155, in unmittelbarer Nähe des Geschehens. Später fotografierte er einen weiteren Hitler-Besuch am 28. März 1936 aus dem Fenster seines Arbeitsplatzes am Neumarkt. Diese Aufnahmen zeigen ebenfalls eine riesige Menschenmenge, die Hitler auf dem Weg zur Schildergasse zujubelte.
Ein korrigiertes Geschichtsbild
Die Fotoserie von Neufeind ist für Historiker von unschätzbarem Wert. Gerade weil es sich um private Aufnahmen und nicht um offizielle Propagandabilder handelt, geben sie einen unverfälschten Einblick in die Stimmung der damaligen Zeit. Sie zeigen eine breite Zustimmung und Euphorie in Teilen der Kölner Bevölkerung für Hitler und das NS-Regime.
„Sie widerlegen damit auf anschauliche Weise das heute noch vielfach vorhandene Stereotyp, die Kölner hätten dem Nationalsozialismus und Hitler prinzipiell ablehnend gegenübergestanden.“
– Einschätzung des NS-Dokumentationszentrums
Die Bilder dokumentieren, wie tief die nationalsozialistische Ideologie in den Alltag der Menschen eingedrungen war. Die Szenen aus Ehrenfeld und vom Neumarkt sind Zeugnisse einer Zeit, in der die öffentliche Meinung maßgeblich von der NS-Propaganda geprägt war. Der Besuch von 1936 fand beispielsweise kurz nach dem Einmarsch deutscher Truppen in das entmilitarisierte Rheinland statt, ein Bruch des Versailler Vertrags, der vom Regime als nationaler Erfolg gefeiert wurde.
Dank der Aufmerksamkeit einer jungen Frau und der sorgfältigen Arbeit der Historiker ist heute ein wichtiges Stück Kölner Stadtgeschichte erhalten geblieben. Die im Sperrmüll gefundenen Negative sind mehr als nur alte Bilder – sie sind eine Mahnung und eine wichtige Quelle für das Verständnis einer komplexen Vergangenheit.




